„Wie von einem wütenden Dämon besessen“ – Leben mit dem Borderline-Syndrom

Leben mit dem Borderline-Syndrom

Die 29-jährige Maya ist eine attraktive Frau mit langen blonden Haaren und grünen Augen. Etwas nervös sitzt sie in der psychotherapeutischen Praxis und versucht die richtigen Worte zu finden: „Manchmal fühle ich mich wie von einem wütenden Dämon besessen, dem ich nicht Herr werden kann. Wenn er die Oberhand gewinnt, weiß ich beispielsweise nicht mehr, wie sehr mein Freund Bernd mich liebt.

Es ist, als hätte ich böse Schmetterlinge im Bauch. Dann toben schwarze Wellen in mir und meine Gefühle explodieren. Vor fünf Minuten war die Welt noch vollkommen in Ordnung, und plötzlich ist alles anders. Böse Dinge schießen mir durch den Kopf und mit aller Macht will ich Bernd so sehr verletzen, dass es kein Zurück mehr gibt. Ich will ihn zum Teufel jagen, ich kann so einfach nicht mehr leben und flippe vollkommen aus.

Dann schreie ich ihn an, beschimpfe ihn mit übelsten Worten, werfe Gegenstände nach ihm und gehe wie eine Furie auf ihn los. Bernd hatte nach meinem letzten Ausbruch genug. Er ist aufgestanden und hat mir gesagt, dass er endgültig geht. Verzweifelt habe ich mich an ihn geklammert und ihn angefleht, zu bleiben. Das Gute und Normale in mir war zurück, der Dämon verschwunden. Ich wusste wieder, wie sehr mich Bernd liebte.

Vor allem war meine Liebe zu ihm plötzlich wieder so stark, dass ich das Gefühl hatte, ohne ihn nicht weiterleben zu können. Doch selbst nach unseren stundenlangen Versöhnungsgesprächen und dem leidenschaftlichen Sex bleibt ein ungutes Gefühl. Ich vertraue ihm nicht mehr, vertraue überhaupt niemandem mehr, fühle mich ganz allein auf dieser Welt und bin wütend. Oft stehe ich so unter Hochspannung, dass ich nicht weiß, wohin mit mir. Und wenn es zu viel wird, fühle ich mich irgendwie taub und bin innerlich leer.

Manchmal wünsche ich mir, dass der Dämon mich tötet und von meinem Leid erlöst. Ich möchte mich wieder fühlen können. Wenn der Druck zu groß wird, fange ich an, meine Arme oder Beine zu ritzen, bis es blutet, nur damit ich mich wieder spüre. Wenn das Blut fließt, beruhigt mich das für einen Moment und ich komme wieder ein wenig bei mir selbst an. Oder ich nehme eine brennende Kerze und verbrenne meine Haut.

Der Schmerz entlastet mich vorübergehend und holt mich wieder ins Hier und Jetzt zurück. Manchmal bestrafe ich mich auf diese Weise auch selbst, wenn ich meinen eigenen, perfektionistischen Ansprüchen nicht genüge oder weil ich mich als schlechter Mensch fühle.”

Was ist ein Borderline-Syndrom?

Maya leidet unter dem Borderline-Syndrom (englisch: Grenzlinie oder Grenzgebiet), einer Symptomatik, die im Grenzgebiet zwischen Psychose, Neurose und Persönlichkeitsstörung angesiedelt ist. Inzwischen ist das Borderline-Syndrom als eigenes Krankheitsbild anerkannt und wird in der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10) den emotional instabilen Persönlichkeitsstörungen zugeordnet.

Borderline ist ein Chaos der Gefühle. Euphorische Glücksgefühle verwandeln sich im nächsten Augenblick in abgrundtiefe Trauer, die große Liebe wird zur großen Enttäuschung, die Romanze wechselt sich ab mit dem Drama: es ist schwarz oder weiß, aber nie grau. „Sich glücklich zu fühlen, ist reine Euphorie. Traurig zu sein, fühlt sich an, als würde man verbrennen. Verliebt zu sein ist als würde man am liebsten in den anderen reinkriechen”, so beschrieb Maya ihre Gefühle.

Borderliner haben Schwierigkeiten, ihre Emotionen differenziert zu spüren und mit ihren extremen Stimmungsschwankungen umzugehen. Bereits minimale Anlässe genügen, damit sie aus einer glücklichen Phase in eine tiefe Depression verfallen oder Wutausbrüche bekommen. „All die Gefühle, die stündlich, manchmal gar minütlich wechseln können, aushalten zu müssen ist anstrengend”, so Maya. Von einem Moment auf den anderen können Borderliner von überwältigender Wut, Angst bis hin zur Panikattacke oder völliger Verzweiflung überfallen werden.

Sie sind nicht in der Lage, diese rasch wechselnden Stimmungen und ihre Impulse zu kontrollieren. Um ihren inneren Druck abzubauen und sich wieder zu spüren, verletzen sie sich selbst, ritzen sich zum Beispiel immer wieder mit einem Messer oder einer Rasierklinge in den Unterarm, drücken brennende Zigaretten auf ihrer Haut aus oder schlagen ihren Kopf gegen die Wand.

Viele Borderliner leiden zudem an weiteren psychischen Erkrankungen wie Ess-Störungen, Depressionen, Störungen der Sexualität, Angst- und affektiven Störungen sowie posttraumatischen Belastungsstörungen. Manche flüchten sich auch in Alkohol, Medikamente oder Drogen, um ihre negativen, zerstörerischen Gefühle abzuschwächen und durch den Rausch – zumindest für einen begrenzten Zeitraum – zu dämpfen.

Auch wiederholte Suizidgedanken und suizidale Handlungen sind ein großes Problem, zumal sich diese Gedanken in Stress-Situationen immer wieder aufdrängen. Etwa acht Prozent der Borderliner töten sich selbst, ca. die Hälfte von ihnen hat zuvor bereits mindestens einen Suizidversuch unternommen.

Borderline kann jeden treffen!

Wie viele Menschen tatsächlich an Borderline erkrankt sind, darüber gibt es bis heute keine gesicherten Zahlen. Das liegt zum einen daran, dass ein großer Teil der Betroffenen keine fachliche Hilfe sucht und daher auch nicht erfasst wird. Auch viele Prominente sollen an Borderline gelitten haben, darunter Prinzessin Diana, Marilyn Monroe und Romy Schneider.

Wissenschaftler gehen davon aus, dass etwa ein bis zwei Prozent der Bevölkerung am Borderline-Syndrom leiden. Zwei Drittel davon sind Frauen. Borderline gilt als Störung, die im frühen Kindesalter ihren Anfang nimmt. In den meisten Fällen gab es schon im Säuglings- und Kleinkindalter Schwierigkeiten, eine sichere emotionale Bindung zu den Eltern oder anderen wichtigen Bezugspersonen aufzubauen.

Eine drogenabhängige Mutter kann beispielsweise ihrem Kind keine sichere Bindung bieten. Mal wird sie es mit Affenliebe überhäufen, ihm schwören, dass es ihr ganzer Lebenssinn sei, dann wieder wird sie es wütend abweisen, wenn sie unter Entzugserscheinungen leidet oder völlig vernachlässigen, wenn sie im Drogenrausch ist.

Dabei entwickelt sich eine Art Hass-Liebe, die sehr verwirrend und verunsichernd für das Kind ist. Viele Borderliner haben während ihrer Kindheit und Jugend traumatische Erfahrungen gemacht, sexuellen Missbrauch erlebt oder sind emotional vernachlässigt worden. 

Missverstanden, ungeliebt und ausgegrenzt – Mit welchen Vorurteilen Borderliner kämpfen

Borderliner werden häufig stigmatisiert und haben mit vielfältigen Vorurteilen zu kämpfen. Am schwierigsten zu verkraften sind wohl die Isolierung und die Einsamkeit, in die ihre Krankheit sie im Laufe der Zeit treibt. Meist zieht sich ihr soziales Umfeld zurück und begegnet ihnen mit Unverständnis oder gar Ablehnung.

Maya erzählte uns, dass sie kürzlich in einem Park in unserem Borderline-Ratgeber gelesen und das Buch neben sich auf die Bank gelegt hatte, um einen Moment das Gelesene sacken zu lassen. Dann setzte sich eine ältere Dame zu ihr, schaute auf den Ratgeber und fragte: „Ist das wieder eine Art Krankheit, die aus Amerika herüber geschwappt ist, so etwas Neumodisches?“ Maya war so irritiert, dass sie einige Zeit brauchte, bis sie antworten konnte. Sie versuchte, der älteren Dame zu erklären, was Borderline ist. Diese zeigte jedoch keinerlei Verständnis und entgegnete abfällig: „Zu unserer Zeit gab es so etwas nicht. Da hatte  man für so etwas keine Zeit. Heutzutage werden immer mehr blödsinnige Krankheiten erfunden, nur um nicht mehr arbeiten gehen zu müssen. Früher mussten wir hart arbeiten und uns um Kinder und Haushalt kümmern. Da hatte man für solche Kapriolen keine Zeit. Dieser ganze Psychokram ist doch Blödsinn, die haben doch alle nur Langeweile, wollen zu Hause bleiben und dem Staat auf der Tasche liegen. Zu meiner Jugendzeit hätten sie solche Menschen in ein Arbeitslager geschickt, um Steine zu schleppen, damit sie nicht auf so unsinnige Gedanken kommen.“ Maya war erschüttert, ihr liefen die Tränen, weil sie sich komplett missverstanden fühlte. Sie war schockiert, dass es in der heutigen Zeit noch Menschen gibt, die nicht verstehen können und wollen, dass Borderline eine ernstzunehmende Krankheit ist und die so heftige Vorurteile gegen Menschen mit psychischen Problemen haben.

In vielen Fällen können auch Freunde und Familie nicht einschätzen, was die Erkrankung für den Betroffenen wirklich bedeutet. Sie leiden unter dem schwierigen und chaotischen Verhalten des Borderliners, fühlen sich durch seine ungerechtfertigten Hasstiraden und Wutanfälle verletzt, können dem Hin und Her seiner Gefühle nicht folgen und werden abwechselnd geliebt und abgelehnt. Auch die fortwährenden Dramen und das selbstzerstörerische Verhalten sind für das Umfeld so unverständlich, dass der Erkrankte mit dem Stigma „Vorsicht: Borderliner!” versehen wird.

Bei vielen niedergelassenen Psychotherapeuten gelten Borderliner als schwierige Patienten. Oft schlagen ihnen daher nicht nur von ihrer Familie oder ihren Freunden heftige negative Reaktionen entgegen, sondern sie müssen auch bei der Suche nach einem Therapeuten viele Absagen einstecken. Mit dieser Ablehnung umzugehen, ist alles andere als einfach. Einige Psychotherapeuten reagieren bereits auf den Anruf eines Borderliners mit einer unmissverständlichen Absage, andere verpassen ihnen Label wie „Therapeutenkiller”, „maskenhaft-unsympathisch” oder „früh gestört”.

Borderliner leiden unter einer inneren Spaltung. Sie empfinden ihr Gegenüber entweder als uneingeschränkt „gut” oder uneingeschränkt „böse”, Zwischentöne kennen sie nicht. So idealisieren sie oft ihren Therapeuten als den besten überhaupt, um dann wegen einer Kleinigkeit vollkommen enttäuscht von ihm zu sein und ihn wütend anzugreifen. Dieses Verhalten führte zur Stigmatisierung als Therapeutenkiller, aber hinter solchen Angriffen steht der Wunsch des Erkrankten, in seiner Not und Verzweiflung wahrgenommen zu werden. Maya sagte über ihre Therapeutin: „Immer wieder frage ich mich: Warum gehe ich eigentlich noch zu ihr? So wirklich helfen kann sie mir nicht und vorwärts bringt sie mich auch nicht. Oft habe ich das Gefühl, dass sie mich gar nicht kennt, überfordert ist und gar nicht meine wirkliche Not sieht.“

Aus solchen Gründen sprechen Borderliner nur ungern über ihre Erkrankung. Sie haben Angst, abgelehnt zu werden und fürchten sich davor, langwierige komplizierte Erklärungen über ihre Störung abgeben zu müssen, aber dennoch nicht verstanden zu werden. 

Was hilft?

Lange Zeit galt die Borderline-Störung als unheilbar. Medikamente dagegen gibt es bis heute nicht, wohl aber gegen einige Symptome der Erkrankung, wie zum Beispiel Depressionen oder ungezügelte Wutanfälle. Doch inzwischen sind einige borderlinespezifische therapeutische Ansätze entwickelt worden, die Grund zur Hoffnung geben. 

Dialektisch-Behaviorale Therapie und Achtsamkeitstraining

Gute Erfolge werden beispielsweise mit der Dialektisch-Behavioralen Therapie (DBT) erzielt, die die amerikanische Psychologin Marsha M. Linehan in den 1990er Jahren entwickelt hat. Dabei geht es zunächst darum, Maßnahmen zu erlernen, die helfen sollen, Problemverhalten wie selbstverletzendes, gewalttätiges oder suizidales Verhalten unter Kontrolle zu bringen.

Die Patienten lernen zunächst, die Ursachen und Auslöser dafür zu identifizieren. Dann üben sie, andere Wege zu finden, um in den entsprechenden Situationen mit dem Überdruck ihrer Gefühle umzugehen. Selbstverletzendes Verhalten kann beispielsweise durch Ersatzreize wie dem Verreiben von Eiswürfeln auf der Haut oder dem Kauen von Chilischoten verhindert werden. Diese Reize sollen helfen, die gefährlichste Phase des  inneren Hochdrucks zu überwinden, ohne sich ernsthafte Verletzungen zuzufügen.

Im Achtsamkeitstraining, das auch im Rahmen einer Dialektisch-Behavioralen Therapie durchgeführt wird, lernen Patienten unter anderem, ihre Emotionen genauer und differenzierter wahrzunehmen, sich von ihnen nicht mehr fortschwemmen zu lassen und mit Beziehungen sorgsamer umzugehen. So könnte beispielsweise Maya aus unserem Fallbeispiel lernen, frühzeitig wahrzunehmen, wenn ihre schwarzen Schmetterlinge im Anflug sind, ihre emotionalen Wallungen beobachten, ohne sich von ihnen mitreißen zu lassen und stattdessen ihrem Freund Bernd ruhig zu sagen, wie es ihr gerade geht.

Weitere therapeutische Ansätze sind die Übertragungsfokussierte Psychotherapie (TPF, englisch: Transference focused Therapy), die Mentalisierungsbasierte Therapie (MBT) und die Schematherapie. Wenn schwere Traumatisierungen zur Entstehung einer Borderline-Störung beigetragen haben, ist auch eine Traumatherapie geeignet.

Auch Selbsthilfegruppen können Borderliner unterstützen, ihre Symptome zu kontrollieren. Hilfreich ist dabei neben dem Erfahrungsaustausch vor allem das gemeinsame Entwickeln kreativer, manchmal auch ungewöhnlicher Wege, um mit der Erkrankung umzugehen. 

Ausblick

Borderline ist eine Erkrankung, die sich durch alle gesellschaftlichen Schichten zieht. Möglicherweise ist sie auch Teil eines gesellschaftlichen Phänomens, das sich in den letzten Jahren mehr und mehr verbreitet hat. Denn in einer Gesellschaft, die den Einzelnen kaum als den Menschen, der er ist, wertschätzt, und in der sich die innere Orientierung und wahre Werte auflösen und nur noch der anerkannt wird, der erfolgreich ist, ist es nicht verwunderlich, dass Menschen auch soziale Bindungen Stück für Stück verlieren. Zudem ist die Atmosphäre in den Familien heute häufiger angespannt als früher, Familienstrukturen verändern sich schneller, Paare trennen sich leichter, die Zahl der Alleinerziehenden und Patchwork-Familien wächst. Da das Borderline-Syndrom vorwiegend durch unsichere, verwirrende und chaotische Beziehungsstrukturen in der frühen Kindheit entsteht, wird es sich vermutlich in den nächsten Jahren auch in Deutschland weiter ausbreiten.

Auf der anderen Seite gibt es immer bessere Therapiekonzepte, die speziell auf diese leidvolle psychische Störung zugeschnitten sind und das Leben mit dieser Erkrankung wesentlich erleichtern. Und nicht zuletzt sollte jeder einzelne von uns bereit sein, Vorurteile abzubauen und offen auf Menschen mit einer Borderline-Störung zuzugehen, damit sie nicht von ihren Mitmenschen ausgeschlossen werden.

Die Autorinnen

Sandra Maxeiner

Sandra Maxeiner

Dr. Sandra Maxeiner promovierte in Politik- und Sozialwissenschaften und absolvierte Ausbildungen zur Heilpraktikerin für Psychotherapie sowie zum Coach. Seit einigen Jahren ist sie als ehrenamtliche Hospizhelferin tätig und Gründerin des Vereins »Was wirklich zählt im Leben e. V.« (www.was-wirklich-zaehlt-im-leben.de).

Hedda Rühle

Hedda Rühle

Hedda Rühle studierte nach ihrer Ausbildung zur Krankenschwester Psychologie an der Freien Universität Berlin. Die wissenschaftliche Mitarbeiterin und Dozentin in den Fächern Psychopathologie, Psychologie und Psychotherapie ist auch in eigener Praxis in Berlin tätig. Von Sandra Maxeiner und Hedda Rühle sind bereits die Nachschlagewerke „Dr. Psych’s Psychopathologie, Klinische Psychologie und Psychotherapie“ (Band 1 und 2) sowie „Dr. Psych’s Ratgeber Depressionen“ im Jerry Media Verlag erschienen.

Der Verlag

https://www.jerrymedia.eu/

Das neue Buch

Dr. Psych’s Ratgeber Borderline. Mit einem Beitrag zur Multiplen Persönlichkeit. Damit ihr wisst, wie ich mich fühle. Was Betroffene und Angehörige wissen sollten.

Borderline Ratgeber

Borderline Ratgeber

Print Friendly, PDF & Email